E-Mail an Prof.Dr.Harald Lesch ...

bei Kohlbruck, Neuburger Wald
Bildrechte Christian Vogel

Lieber Harald Lesch,

ich sehe gerade Ihre interessante ZDF-Sendung über den Sinn des Lebens – und bin gleich am Anfang an einem markanten Satz von Ihnen „hängen geblieben“:

„Wir waren einmal nichts, und wir werden einmal nichts sein – wer soll das begreifen?“  >>

Ja, tatsächlich – diese Aussage hat es in sich. Sie trifft in ihrer Wucht mitten ins Herz der Frage, was unsere Existenz eigentlich bedeutet. Ich frage mich: Wie war das von Ihnen gemeint – eher zugespitzt, poetisch-philosophisch, oder ganz nüchtern? Denn wenn man den Satz genau betrachtet, kann er sich ja eigentlich nur auf unsere körperliche Existenz beziehen. Und in diesem Zusammenhang ist er ja völlig stimmig – aber eben auch schwer zu fassen, weil er in eine Richtung weist, in der Denken kaum noch helfen kann. Fast unausweichlich stellt sich dann eine gewisse Beklemmung ein.

Doch Sie und ich – und wohl viele andere auch – wissen ja sehr wohl, dass das, was wir „sind“, mehr umfasst als nur die körperliche Hülle. Wer als Mensch lebt, fühlt, denkt, liebt, zweifelt, schöpft Sinn – der erlebt unmittelbar, dass es da noch etwas anderes gibt: das Innere, das Geistige, das, was wir „Seele“ oder auch „Bewusstsein“ nennen.

Und da wird es spannend. Denn während der technische Fortschritt ja rasend voranschreitet (vielleicht zu rasend ...), bleiben viele der menschlichen, geistig-geistlichen Potenziale eher zurück. Was ist mit Dankbarkeit, Achtsamkeit, Wachheit des Geistes? Mit Mut, mit Verantwortung – sich selbst und allen Geschöpfen gegenüber? Was ist mit Schutz für die Alten, die Schwachen, die Kranken?

Ein starker Moment in Ihrer Sendung war für mich die Szene mit dem Cosplay: Menschen treffen sich, verkleiden sich als Manga-Figuren – und eine junge Frau sagt: „Hier kann jeder zeigen, was und wie er sein möchte. Es ist eine wunderbare Gemeinschaft.“

Das hat mich berührt – aber auch sehr nachdenklich gemacht.
Denn: Warum muss ich mich erst verkleiden, um so sein zu dürfen, wie ich wirklich bin? Warum braucht es Masken, um echte Gemeinschaft zu erleben? Das ist doch eigentlich tragisch – oder mindestens ein Zeichen dafür, wie sehr sich unsere reale Welt von Echtheit und Unmittelbarkeit entfernt hat.

Alles muss heute irgendwie „besonders“ oder „anders“ sein, bevor es als normal gelten darf. Wahre Identität wird verdeckt, verwischt, verwässert. Und auf perfide Weise scheint unser gesamtes Gesellschaftssystem genau darauf eingerichtet zu sein. Eine Welt voller Spezialisten – von Ärzten über Therapeuten bis hin zu Pharmakonzernen –, die oft, viel zu oft nicht zur wirklichen Heilung beitragen, sondern Teil eines Kreislaufs sind, der das Vertrauen in die eigene innere Kraft untergräbt.

Dabei ist das Entscheidende doch genau dieses Vertrauen – in die eigenen Fähigkeiten, in die Weisheit des Körpers, in unsere ursprüngliche, gesunde Lebenskraft. Wenn wir wirklich gesund sind, nachhaltig gesund, dann erledigt sich die Frage nach dem Sinn des Lebens fast von selbst. Dann leben wir das Leben, anstatt es nur zu analysieren.

Gesundheit bedeutet: das unermessliche Potenzial, das in uns steckt, freizuschalten, freischalten zu können. Und das geschieht – da bin ich überzeugt – nicht durch Tabletten oder Rezepte, sondern allein durch die Qualität des reinen Augenblicks. Der Moment, der ganz da ist, ohne Vergangenheit und ohne Zukunft – nur jetzt.

Dieser Moment ist wie ein Brennpunkt, in dem Zeit und Ewigkeit sich berühren. Ich kann es vielleicht noch nicht ganz erklären – aber ich fühle, dass es stimmt. Mein Bauchgefühl sagt es mir – und ich halte viel davon. Der Darm gilt ja nicht umsonst als unser „zweites Gehirn“.

Wenn ich auf meine innere Stimme höre, auf das, was mir wirklich guttut – dann muss ich gar nicht dauernd irgendwo hingereicht oder „behandelt“ werden. Ich kann selbst gesund bleiben, selbst wach und vital leben, bis ins hohe Alter – ohne ständig etwas einnehmen zu müssen.

Und dann – dann wird der Sinn des Lebens plötzlich ganz still und klar: das Leben selbst. Der Moment. Die Dankbarkeit. Das Dasein im bewußten Ein- und Ausatmen.

Als Christ begeistert mich besonders Jesus' Sichtweise:
„Ich bin.“
Hier. Jetzt.
Und er sagt: „Sorgt euch nicht, was ihr essen oder anziehen sollt. Seht die Vögel unter dem Himmel – sie säen nicht, sie ernten nicht, und doch weiß euer Vater im Himmel, was sie brauchen.“

Für mich ist das ein ganz klarer Hinweis: Lebe im Jetzt, sei gegenwärtig – und kümmere dich um das, was das Leben wirklich ausmacht: das Reich Gottes, also echte Mitmenschlichkeit, Offenheit, Zuwendung, Dankbarkeit, Zufriedenheit.

Wenn ich mich darum kümmere – dann stecke ich andere damit an. Und sie wiederum andere. So entsteht ein Raum, in dem Menschen sich aufrichtig begegnen können. Und das, Herr Lesch, wäre für mich eine sehr sinnvolle Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens.

Herzlichen Dank fürs Lesen – und für Ihre immer klug, klar und menschlich gemachten Sendungen.
Wenn Sie Lust und Zeit haben, würde ich mich über einen persönlichen Austausch sehr freuen. Ich bin in Passau, Sie, denke ich, in München – ein Deutschlandticket hab ich, ein Auto nicht. Aber das muss ja kein Hindernis sein.

 

Mit freundlichen Grüßen


Christian Vogel


Werte können wertlos oder wertvoll sein. Wem sie nichts bedeuten, dem sind sie nicht das Papier wert, auf dem sie stehen. Der Wert der Werte zeigt sich im Alltag daran, was jemand anstrebt oder hinnimmt, wenn er ihnen folgt. "Es gibt nichts Gutes, außer man tut es!", formulierte der große Pädagoge Erich Kästner.